Es war einer der größten Momente in der Geschichte des Grand Prix und heutigen Eurovision Song Contests: Die gerade einmal 17-jährige Nicole griff zur Gitarre und sang ein Lied, das genau zur richtigen Zeit kam und heute gar aktueller denn je ist: “Ein bisschen mehr Frieden”. Eben diese Gitarre, ein Mikro und ihre Stimme… mehr brauchte es nicht, um die Welt zu bewegen. Noch heute macht sich die Künstlerin für den Frieden stark und setzt sich dabei auch für Kinder in der Welt ein… mit ihrem Engagement als Botschafterin für die Reiner Meutsch Stiftung Fly & Help. Zu diesem Zweck reiste sie nun auch nach Fuerteventura, um bei der “Nacht des Deutschen Schlagers” aufzutreten. Wenige Stunden zuvor führte schlagerpuls.com ein exklusives Interview mit Nicole, die kein gutes Haar am heutigen ESC ließ… und deutliche Kritk übte! Es sind Worte, die sehr vielen ganz sicher aus der Seele sprechen!
Schlagerpuls.com: In Kürze steht ja auch wieder der ESC an. Verfolgst du ihn eigentlich noch und schaust ihn, wenn du es schaffst?
Nicole: “Wenn ich zu Hause bin, dann schaue ich den ESC natürlich. Einmal infiziert, immer infiziert.. wobei ich mich immer wieder ertappe, dass ich um halb zwei gähnend auf die Uhr schaue und denke: ‚Wann ist es denn vorbei?‘ Früher wusstest Du um 23 Uhr, wer der Sieger ist. Das weißt du heute nicht mehr. Es sind ja auch immer mehr. Wir waren damals 18 Länder, jetzt sind es 28, wovon diese ja schon aus 56 ausgesiebt wurden. Und es geht nur noch zu, wie am Fließband. Der Kommentator hat auch gar keine Zeit mehr auf den Interpreten oder die Interpretin einzugehen. Früher hatten Ado Schlier… damals war er der Kommentator vom Bayerischen Rundfunk… und jeder andere Kommentator seine Zelle da oben und hatten eine Minute Zeit die Künstler vorzustellen. Und da alle noch in ihrer Muttersprache gesungen haben war natürlich Griechisch beispielsweise Finnisch nicht für jeden verständlich. Also hat der Kommentator einen Sheet gehabt, auf dem drauf stand um was es in dem Lied geht. Das ist heute nicht mehr so. Die haben keine Zeit mehr. Es geht nur noch darum, wie der Interpret heißt und was er gerade irgendwo macht oder wie er bekannt wurde… und ob er schonmal einen Hit hatte, oder nicht. Nach zehn Sekunden geht es dann schon los.”
Dabei legte Nicole im exklusiven Interview mit uns nach: “Dazu hat heutzutage jeder ein anderes Bühnenbild. Der eine hat eine fahrbare Treppe, der andere hat ein Kleid, welches mit hochfährt. Dann hat einer überspitzt gesagt 100.000 halbnackte Tänzer und der andere hat einen Eiskunstläufer oder einen Olympiasieger, der auf der Bühne Schlittschuh läuft zu irgendeinem Titel. Dabei denke ich, dass das ein Lieder-Wettbewerb ist und kein Show-Wettbewerb. Wenn sie Awards verteilen für das beste Lichtdesign, dann muss ich sagen: ‚Da bin ich raus‘. Unsere Bühne war für alle gleich. Es gab keinen Vorteil. Der eine sagt jetzt: ‘Ach, aber die hatte jetzt eine Bühne, die hochgefahren ist. Das hatte ich nicht. Ich hatte nur das und das.‘ Und das gilt dann als Vorteil. Der andere hatte irgendeine digitale Wand hinter sich, da liefen so digitalisierte Menschen rum und haben so Gags gemacht… und der hat gewonnen. Hätte er die Wand nicht gehabt, dann wüsste ich nicht, ob er gewonnen hätte. Und Nemo hätte auch nicht gewonnen, wenn er diese Drehscheibe nicht gehabt hätte. Bei der Wiederholung hast du es gemerkt. Da war die Bühne plötzlich leer, dieser Rieseneffekt hat komplett gefehlt. Da stand plötzlich ein ganz schmaler Junge mit einer Pelzjacke und konnte nicht mehr auf diesem Ding da turnen. Das war komplett weg. Es war abhängig von diesem Ding. Ein Lied muss auch dann funktionieren, wenn nichts auf der Bühne steht. Dann ist es ein gutes Lied. Ein Lied das bleibt. Ich kann es nicht mehr sehen. So viele der letzten Jahre sind mir nicht mehr in Erinnerung geblieben. Das Letze,t was mir in Erinnerung geblieben ist, ist Conchita Wurst. Nicht nur durchs Aussehen…, aber auch der Titel und James Bond. Ich hatte sofort James Bond, ‚Rise Like a Phoenix‘ und so im Kopf, und danach weiß ich nicht mehr, wer gewonnen hat. Und das ist ja auch schon wieder viele Jahre her.”
Schlagerpuls.com: Was vermisst du noch an den Künstlern dort heutzutage?
Nicole: “Mir fehlen die Authentizität und der Tiefgang eines Interpreten. Er muss die Bühne entern. Er muss auf die Bühne gehen und du musst schon irgendwie das Gefühl haben: ‚Wow! Das ist anders. Der ist anders‘. Als damals die Olsens auf die Bühne kamen… die beiden Brüder mit ihren beiden Gitarren… die haben noch keine zehn Sekunden gesungen, da habe ich gesagt: ‚Die gewinnen!‘ Denn das sind Vollblutmusiker und keine auf die Schnelle zusammengestellte Konstellation. Die machen seit 40 Jahren Musik auf der Bühne. Sie kamen da raus und hatten eine ganz andere Attitüde. Auch ‚Katrina and The Waves‘… die kam raus und da wusste ich es auch schon. Die Mädels sehen alle heutzutage gleich aus, es klingt gleich und die Mädels sind fast gleich angezogen. Also weniger ist dann anscheinend wohl mehr und alle sind blond. Ich bin auch blond, aber das war ich damals schon. Das sind alles Barbies. Da müsste mal eine Joy Flemming auf die Bühne kommen… sie würde alle in Grund und Boden singen. Sie macht den Mund auf und da kam was raus. Sie ist zwar leider mittlerweile verstorben, aber das meine ich… das sind Vollblutmusiker. Sie leben und sterben für die Musik. Und für manche ist es einfach nur so eine Möglichkei, eventuell groß rauszukommen. Aber von denen hört man dann aber auch nichts mehr. Die Sieger haben gar keinen Bestand mehr.”
Schlagerpuls.com: Wahre Worte…
Nicole: “Johnny Logan bleibt. Der bleibt. Den kannst du nachts auch um halb drei wecken, da kommt kein falscher Ton. Das ist ein ganz, ganz lieber und alter Freund von mir. Wir beide schütteln auch manchmal den Kopf und sagen: ‚War das nicht eine schöne Zeit als wir damals in den 80ern…‘. Wenn du da gewonnen hast, dann hattest du einen Freifahrtschein für ganz Europa und darüber hinaus. Aber es wird alles immer schnelllebiger und digitalisiert… und mir fehlt das Herz. Mir fehlt ein Lied, was mein Herz berührt. Das ist schon lange nicht mehr dabei gewesen. Es ist nur noch laut und schrill.”
Schlagerpuls.com: Was hältst Du von diesem Casting-Prinzip und dass Stefan Raab in diesem Jahr wieder beim deutschen Vorentscheid im Boot ist?
Nicole: “Er hat ja damals bewiesen, dass er ein gutes Näschen hatte – mit Lena. Er kennt sich auch sehr, sehr gut mit Social Media aus und das ist ein Riesenvorteil. Wenn du da die richtigen Knöpfe drückst… und wenn du weißt, wo. Man darf das nicht unterschätzen und deshalb kann ich auch den Sieger gar nicht mehr voraussagen… es ist einfach nicht mehr fair den Anderen gegenüber, die sich nicht damit auskennen. Es ist ein unlauterer Wettbewerb geworden und ich sage dir, es ist nicht wie bei der Leichtathletik. Da kannst du Promotion machen, wie du willst. Wenn der Typ die 100 Meter nicht am schnellsten läuft, hat er nicht gewonnen und er kann es auch auf niemanden schieben. Du bist so schnell, wie du läufst. Da kann der Kollege 100-mal in der Presse hoch gehypt werden. Wenn er nicht schneller läuft, dann ist er Zweiter. Und das ist hier nicht mehr gegeben. Wir hatten früher wirklich alle gleiche Chancen. Wir hatten eine Bühne, die war für alle gleich. Da konnte keiner sagen, die hat einen Vorteil oder der. Es wurde live gespielt. Das war eine andere Welt.”
Schlagerpuls.com: Live-Musik ist ja allgemein in TV-Shows eine absolute Seltenheit geworden…
Nicole: “Bei 28 Ländern wird es auch schwierig, denn Jeder will sich anders hören. Und mit In-Ears heutzutage ist es eh wurscht. Die Bühne kann in der Wüste sein, sie kann auf dem Mond sein… der Künstler hört sich durch diese In-Ears Gott sei Dank immer gleich gut. Aber du musst den Sound ja erstmal rüberbringen. Wenn da Jemand sitzt, der nicht viel Ahnung hat… Ein Lied stirbt und lebt mit dem Abmischen. Wenn die Stimme zu leise ist, kriegst du den Zuhörer nicht. Geh einfach auf die Bühne gehen, drei Minuten, und zeig, was du kannst. Dann wird auch das richtige Lied gewinnen.”
Wir danken Nicole sehr für das ehrliche Interview – und recht hat sie! Liebe Nicole, Chapeu, dass du offen das aussprichst, was viele denken. Mach weiter so – denn du bist eine wahre ESC-Ikone!